Urmel aus dem Eis

Scharoun Theater Wolfsburg

EVENT: Samstag, 15. November 2025, 17:30

ARTIKEL: Sonntag, 16. November 2025


Scharoun Theater Wolfsburg bei Nacht mit Schriftzug "Urmel aus dem Eis"
Scharoun Theater Wolfsburg bei Nacht mit Schriftzug "Urmel aus dem Eis"

Ich komme ins Scharoun Theater Wolfsburg, um das Weihnachtsmärchen „Urmel aus dem Eis“ nach Max Kruse zu sehen. Schon im Foyer empfängt mich eine liebevolle Sammlung von Urmel-Kunstwerken, alles bunt, groß, lebendig. Dazu liegt dieser Duft nach frischen Waffeln in der Luft, der mich sofort ein bisschen an Kindheit erinnert. Die Sitzreihen im Zuschauer-Saal stehen schräg zueinander. Erst denke ich kurz: Ernsthaft, wer hat das so hingestellt? Später erfahre ich, dass der ganze Raum architektonisch bewusst so konzipiert wurde und unter Denkmalschutz steht.

Bühnenvorhang zu "Urmel aus dem Eis" mit Zuschauerraum im Scharoun Theater Wolfsburg
Bühnenvorhang zu "Urmel aus dem Eis" mit Zuschauerraum im Scharoun Theater Wolfsburg

Noch bevor die eigentliche Geschichte beginnt, fällt mir das Bühnenbild von Christina Wachendorff ins Auge. Die Insel, auf der die Handlung spielt, wirkt wie eine stillgelegte Baustelle, die von den Bewohnerinnen und Bewohnern zu einem Zuhause umfunktioniert wurde. Eine riesige Baumaschine mit Kran und einem breiten Transportband dient als Wohn- und Arbeitsstruktur. Oben gibt es sogar eine Aussichtsplattform, von der aus man in die künstliche Ferne schauen kann. Drumherum wanken große Wasserwellen, die die Bühne wie ein bewegtes Meer umschließen. Die Farben sind kräftig und verspielt, und zwischendurch zischt ein Miniatur-Hubschrauber überraschend am Himmel vorbei. Es fühlt sich an, als wäre ich in ein großes, eigenwilliges Kinderzimmer gefallen.

Selbstbild mit Bühnenbild-Modell , durch einige Interaktionen mit Menschen sieht es ein wenig anders aus als das Original
Selbstbild mit Bühnenbild-Modell , durch einige Interaktionen mit Menschen sieht es ein wenig anders aus als das Original

Schon in den ersten Szenen irritiert mich, wie mit Sprache umgegangen wird. Sprachfehler wären an sich kein Problem, aber hier werden sie Tieren angedichtet, weil ihre Körper angeblich „für bestimmte Laute nicht geeignet“ seien. Das wirkt seltsam, denn natürlich sind die meisten Tierkörper nicht für menschliche Sprache ausgelegt. Das müsste man nicht als humorige Schwäche inszenieren, sondern eher als Hinweis darauf, dass Tiere völlig andere, eigene Kommunikationsformen haben, die für ihre Lebensweisen sinnvoll sind. Stattdessen bringt der Professor ihnen eine menschliche Sprache bei und legt ihnen menschliche Normen über. In Kombination damit, dass er eine Insel einfach für sich beansprucht und dort bestimmt, wie gesprochen und gelebt wird, entsteht ein kolonial anmutender Unterton, den das Stück nicht weiter reflektiert.

 

Das Stück ist sehr lang für ein Kinderstück, mit Pause zwischendurch. Manche Darstellende geben unglaublich viel Energie, Tempo und Körperspiel, während andere Szenen manchmal in einer Art erzählerischem Wackelpudding versinken. Ich spüre die Mühe und die Hingabe aller Beteiligten, aber ich wünsche mir zwischendurch ein klareres Timing.

 

Der zweite Akt führt dann in eine Eishöhle. Blaues Licht lässt die Träger glitzern, die Schauspielerinnen und Schauspieler kriechen durch die Konstruktion und schaffen so einen geradezu magischen Raum. Das ist einer der Momente, in denen das Theater alles vereint, was ich daran liebe.

nach Wölfen wie Dobby (hier mit der Skulptur "Lasten und Tragen") wurde die Stadt Wolfsburg benannt, er muss bei kaltem Wetter wie im Artikel ausführlich kritisiert Kleidung tragen und darf nicht frei in der Wildnis leben
nach Wölfen wie Dobby (hier mit der Skulptur "Lasten und Tragen") wurde die Stadt Wolfsburg benannt, er muss bei kaltem Wetter wie im Artikel ausführlich kritisiert Kleidung tragen und darf nicht frei in der Wildnis leben

Anna Woll in der Titelrolle beeindruckt mich. Es ist eine enorme Leistung, in Bezug auf das Spielalter so weit herunterzuspielen und dabei so präsent und liebenswert zu sein. Das hätte leicht lächerlich wirken können, wird hier jedoch berührend und fein.

 

Aber auch das restliche Ensemble trägt viel zur Lebendigkeit des Abends bei. Stefanie Herzgsell als Wawa bewegt sich mit tiefem Schwerpunkt und den breiten Arm- und Beinbewegungen eines echten Warans. Wawa ist auf sein Rad, also das akrobatische Element, fast genauso stolz wie auf seine „Muschel“. Diese Muschel ist im Stück eine Baggerschaufel mit Vorhang. Ich gebe zu, ich war kurz enttäuscht, weil es Baggerschaufeln gibt, die wie eine Kralle funktionieren und viel muschelhafter wären. Aber Wawas Begeisterung ist so ehrlich, dass ich schließlich einfach mitgelächelt habe.

 

Luise Harder als Ping Ping watschelt unermüdlich durch den riesigen Zuschauerraum, schlittert halsbrecherisch pinguin-esk bäuchlings über den Boden und wechselt zwischendurch blitzartig in die Rolle der pelztragenden, snobistischen Museumsdirektorin Zwengelmann. Dieser abrupte Rollenwechsel gelingt ihr so treffsicher, dass ich nachher kurz nachlesen muss, ob wirklich dieselbe Person auf der Bühne stand.

 

Vladimir Pavic gestaltet Professor Habakuk als zerstreutes Pseudo-Genie. Die Figur zieht Szenen zeitlich oft in die Länge, und ich bin mir sicher, dass ein strafferes Timing an einigen Stellen möglich gewesen wäre. Ähnlich geht es mir mit Jürgen Beck-Rebholz als König Pumponell, dessen ausgedehnte Klagephasen über den Verlust seines Thrones für meinen Geschmack schneller auf den Punkt hätten kommen dürfen. 

 

Gerald Leiß als Schwein Wutz erledigt unentwegt und ein wenig besessen die gesamte Care-Arbeit auf der Insel. Diese Figur ist ständig damit beschäftigt, Ordnung zu halten, zu versorgen, zu putzen, zu organisieren. Wutz entdeckt dann nur sehr widerwillig so etwas wie Muttergefühle und opfert am Ende genauso widerwillig seine Schlaftonne einem guten Zweck. Das alles spielt Gerald Leiß mit sichtbarer Hingabe. Um mich herum reagieren vor allem Mamas und Omas mit zustimmendem Murmeln und Nicken. Man spürt, wie viele der Erwachsenen diese Figur sofort ins Herz schließen.

 

Martin Geisen verleiht seinem See-Elefanten eine bewusst überzeichnete, grönemeyerhafte Note. Die Erwachsenen lachen herzlich, während viele Kinder nicht ganz verstehen, was genau daran witzig sein soll (neben mir wurden zwischendrin im Flüsterton Erklärungsversuche gestartet). Geisen begleitet außerdem alle Songs live am Klavier, oft in völlig unterschiedlichen musikalischen Stilen, was der Inszenierung zusätzliche Energie gibt. Wenn er auf einem Rollbrett liegend über die Bühne gleitet, wirkt er wie ein eigener Meeresbewohner in seiner Strömung. Diese Mischung aus Musik, Spiel und Bewegung macht seine Figur zu einer der stärkeren des Abends.

Dass die Vorstellung spätnachmittags stattfindet und mit Elternbegleitung , merkt man. Wir sind still und es gibt wenig von den witzigen und lautstarken Interaktionen des typischen Weihnachtsmärchen-Chaos'. Ich glaube, dass eine Schulvorstellung am Vormittag deutlich lebendiger wäre.

 

Die Altersempfehlung ab vier Jahren halte ich für sehr niedrig angesetzt. Ein abgedankter König in der Identitätskrise oder ein See-Elefant, der sich in der Rolle des tragischen Einzelgängers gefällt, sind Themen, die Grundschulkinder verstehen können, nicht Vorschulkinder.

 

Ist das überhaupt vegan?

Hier bleibt das Stück hinter jeder Chance zurück, Tierrechte oder ökologische Fragen auch nur anzudeuten. Ein Ei, das über den gesamten Ozean treibt, ist physikalisch absurd. Gleichzeitig wäre es eine ideale Grundlage für klimapolitische Fragen gewesen. Stattdessen werden Tiere vermenschlicht und ihre eigenen Kommunikationsformen ignoriert. Das ist erzählerisch veraltet und ohne kritische Brechung schwierig.

 

Wie queer ist das denn?

Queere Themen oder Perspektiven sind nicht erkennbar. Wutz trägt very traditionalistisch weiblich gelesene Kleidung, was eher an Travestie erinnert als an eine politisch-queere Erzählung.

 

Hast du die Kids gesehen?

Das Urmel selbst wird wie ein Kleinkind dargestellt. Die anderen Tiere sind vermutlich erwachsen, verhalten sich aber kindlich, weil ihnen durch den Professor artgerechte Entwicklungsmöglichkeiten genommen wurden. Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Erwachsene Tiere sind keine Kinder. Ihre Gleichsetzung verwischt wichtige Unterschiede und erzeugt ein entmündigendes Bild von Kindheit und Tiersein.

 

Sinnlichkeit

Die Inszenierung erzählt auf vielen Ebenen sinnlich: das farbstarke Bühnenbild, die glitzernden Lichter, der Mini-Hubschrauber, die wankenden Wasserwellen, die kreativen Kostüme, die die Darstellenden wie lebendig gewordene Stofftiere wirken lassen. Einziger Punkt, den ich vermisst habe, ist Mut im Maskenbild. Während Bühne und Kostüme tief in den Farbkasten greifen, wirken die Gesichter der Darstellenden weitgehend neutral. Die Inszenierung bleibt aber trotzdem insgesamt sehr atmosphärisch und bildstark.

 

Trigger

Ich habe keine unvermeidbaren oder unnötig gesetzten Trigger wahrgenommen.

 

Meine Haltung zum Bühnenwerk

Ich gehe grundsätzlich so unvoreingenommen wie möglich ins Theater. Ich lese vorher weder Programmheft noch Kritiken, weil ich erleben möchte, wie ein Stück ohne Vorwissen auf mich wirkt. Gleichzeitig interessiere ich mich für die Welt, in der solche Arbeiten entstehen, und habe einen offenen Blick für größere Zusammenhänge. Ich schaue, was ein Stück in mir auslöst, ohne zu behaupten, dass meine Sichtweise die einzig richtige ist.

 

Wenn du neugierig geworden bist, gönn dir doch selbst einen Nachmittag oder Abend mit dem Urmel. Vielleicht wirkt es auf dich ganz anders. Infos zur Produktion findest du hier: 

Urmel aus dem Eis auf der Website des Scharoun Theaters Wolfsburg (externer Link)


Urmel aus dem Eis

Weihnachtsmärchen für die ganze Familie nach dem Kinderbuch von Max Kruse

Großer Saal des Scharoun Theaters Wolfsburg

Regie: Axel Krauße
Musik: Paul Bießmann
Ausstattung: Christina Wachendorff
Dramaturgie: Bernd Upadek
Regieassistenz: Sophie Reckardt
Besetzung: Vladimir Pavic (Professor Habakuk Tibatong), Gerald Leiß (Wutz), Luise Harder (Ping Pinguin und Direktor Zwengelmann), Stefanie Herzgsell (Wawa), Martin Geisen (See-Elefant), Anna Woll (Urmel), Jürgen Beck-Rebholz (König Pumponell)


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