Die Physiker (Dürrenmatt)

Theater Salz und Pfeffer, Nürnberg

Event: 23. November 2025

Artikel: 23. November 2025


VORBEMERKUNG

 

In Deutschland wird statistisch jeden dritten Tag eine Frau von einem Mann aus ihrem unmittelbaren Umfeld getötet. Diese sogenannten Femizide, also die Ermordung von Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts, sind eine durchgehende Thematik in der Stückvorlage "Die Physiker" von Dürrenmatt, und die Problematik wird dort geradezu widerlich behandelt. Die ermordeten Menschen werden zu angeblich notwendigen und sinnvollen Opfern degradiert, und es wird keinerlei Raum für Trauer geschaffen. Im Stück selbst wird sogar gesagt: Die Gerechtigkeit hat heute Ferien. Eine Formulierung, die ich für vollkommen unsäglich halte.

 

Ich finde, es ist die Pflicht einer Inszenierung, das anzupassen oder sich als Haus zumindest eindeutig zu dieser Problematik zu positionieren. Soweit ich das nachvollziehen kann, ist nichts davon geschehen. Für mich ist das nicht nur eine verpasste Chance, sondern ein Nicht-Nachkommen der eigenen Verantwortung als kulturelle Institution und als Kulturschaffende. Die Kultur, in der wir leben, und die Geschichten, die wir uns erzählen, sind das, was Femizide erst ermöglicht. Und Kulturinstitutionen und Kulturschaffende sind verpflichtet, solchen schrecklichen Problematiken entschieden und eindeutig entgegenzutreten.

 

Ich bin ehrlich entsetzt, dass das hier offenbar nicht geschehen ist. Es tut mir herzlich leid, falls ich da irgendetwas übersehen habe. Andererseits halte ich mich für einen ziemlich aufmerksamen Menschen. Und wenn dort Aktionen gelaufen sind, dann hätten sie ja zu mir durchdringen müssen.

 

Und gleichzeitig: Ich bin ein erwachsener Mensch. Ich kann mit Ambivalenzen und Dilemmata umgehen. Genauso wie ich gegen Kapitalismus sein kann und trotzdem ein modernes Smartphone besitze, so kann ich auch den Umgang mit der Femizidproblematik im Stück von Seiten der Inszenierung und von Seiten des Hauses nicht in Ordnung finden, und mir dennoch das Stück anschauen und sehen, was mich daran beeindruckt oder was ich nicht so gut finde.

 

 

kurz zur Stückvorlage

 

Dürrenmatts "Die Physiker" entwickelt seine Wirkung vor allem dadurch, dass einem als Zuschauer ständig der dramatische Boden unter den Füßen weggezogen wird. Sobald man beginnt, einer Hauptfigur zu glauben, steht man kurz darauf wieder vor einem Rätsel. Man fragt sich, ob das eben Gesagte tatsächlich eine klare Einsicht war oder doch nur ein weiterer Ausbruch von Wahnsinn. Das Stück lässt einen mit Absicht nie lange in einer Gewissheit sitzen.

 

Auffällig ist, wie geschickt Dürrenmatt über das ganze Stück hinweg Spuren legt. Die Figuren können sich erstaunlich klar und zum Teil sogar wissenschaftlich präzise äußern. Und trotzdem lauert bei fast allen Beteiligten eine psychiatrisch fragwürdige Dimension im Hintergrund. Newton und Einstein mögen ihre Tarnrollen überzeugend spielen. Aber sie benehmen sich über weite Strecken komplett wahnsinnig, inklusive Mord an Pflegepersonal, sodass man nicht einfach davon ausgehen kann, dass gerade ihre spätere Enthüllung nun ausgerechnet der Punkt ist, an dem sie zuverlässig die Wahrheit sagen.

 

Ähnlich verhält es sich mit der Psychiaterin. Ich würde sie auch nicht grundsätzlich als gesunde, objektive oder sachliche Person lesen. Ihr viel zu egalitärer Umgang mit der Ermordung ihres Personals müsste einen eigentlich früh auf die Spur bringen, dass hier etwas überhaupt nicht in Ordnung ist. Dazu kommt diese eigentümliche Atmosphäre, als sei die ganze Klinik weniger ein Sanatorium und mehr ihr persönliches Experiment. Das ist ein Eindruck, der sich schon während der Handlung aufdrängt und nicht erst am Schluss bestätigt wird.

 

Gerade diese Mischung aus klarem Denken und offensichtlichem Abgrund macht den Reiz des Stücks aus. Man kann den Figuren immer wieder folgen, weil sie sich vernünftig, präzise und manchmal erschreckend logisch ausdrücken. Doch im nächsten Moment stehen die gleichen Figuren plötzlich neben sich, verwickeln sich in neue Identitäten oder handeln so irrational, dass man wieder ganz von vorn beginnen muss, sich ein Bild zu machen. Die Physiker erzeugen damit einen Schwebezustand, in dem man nie sicher ist, ob man gerade einer gültigen Beobachtung, einer charmanten Lüge oder einem perfekten Irrsinn aufgesessen ist.

 

Dürrenmatt spielt genau mit diesem Effekt. Er baut eine Welt, in der Vernunft und Wahn nicht zuverlässig zu trennen sind, weder für die Figuren noch für das Publikum. Und vielleicht ist das genau die eigentliche Pointe des Stücks: Man soll nie ganz sicher sein, wem man glauben kann und ob es überhaupt jemanden gibt, dem man glauben sollte.

 

BLOG

 

Ich habe mir das Stück "Die Physiker" von Friedrich Dürrenmatt im Theater Salz und Pfeffer am Nürnberger Plärrer angeschaut. Es ist die dritte Vorstellung in Folge am Premierenwochenende. Und das Haus ist voll. Soweit ich sehe, sind alle Sitze besetzt. Das freut mich natürlich für die Veranstaltenden sehr. Ich persönlich komme in Bezug auf Reize im vollbesetzten, lauten Foyer an meine Grenzen.

 

Das Stück beginnt mit einem Ausschnitt aus dem biblischen Hohen Lied der Liebe, der aber immer weiter abdriftet in physikalische Formeln. Auf der Bühne sehe ich ein weitgehend abstraktes Setting: Eine hüfthohe weiße Box dient als Podest, eine große weiße Stellwand bildet meistens den Hintergrund. Gegen Ende des Stücks wird diese Stellwand zur Kulisse. Erst erscheinen darauf die schwedischen Gardinen als Projektion. Später sind die Köpfe der Physiker an der Wand aufgespießt. Ein Ausschnitt in der Stellwand fungiert als Puppentheater, dort als Hintergrund im ersten Teil ein bekannter mandarinenfarbiger US-amerikanischer faschistischer Diktator, später sein russisches Pendant. (Ausstattung: Patrik Lumma, Sarah E. Schwerda)

 

Gespielt wird das gesamte Stück von nur einer Person, nämlich von Jonas Arndt (he/they). Am Anfang trägt they eine Bischofsmütze und einen glitzernden Schleier. Danach tritt they in einer schwarzen, eng anliegenden Unterwäsche auf, mit einem Überwurf der (sorry!) für mich aussieht wie ein Hufflepuff-Quidditch-Mantel: schwarz mit gelbgoldenen Applikationen (Kostüm: Lena Peschke). Die erste Figur entsteht live vor meinen Augen: In der vermeintlichen Bibel bewahrt der Bischof eine Rolle Tape auf, und aus diesem Tape und einem Stück Papier kreiert er die Grundzüge des Kommissars. 

 

Von dort aus entfaltet sich die unglaubliche Vielfalt der Figuren (Puppenbau: Madita Kuhfuß, Patrik Lumma). Die Titelfiguren haben eine Ziggy-Stardust-Ästhetik, die aus einer schieren Ummenge von Klebeband in verschiedenen Neonfarben besteht. Klappmaulköpfe, wenn ich die Vokabel richtig weiß, die am langen Arm geführt werden und dadurch wie die Köpfe einer Hydra wirken.

Die Psychiaterin trägt eine riesige Robe und obwohl die Figur eigentlich klein ist, nimmt sie durch ihre überartikulierte Art zu sprechen und sich mit viel "swoosh!" (das ist das Wort.) zu bewegen, regelmäßig den gesamten Raum ein. Die Oberschwester ist brüsk, körperlich kräftig und bringt mit einer einzigen Körperdrehung den Kommissar zu Boden.

 

Die Nicht-Titelfiguren, also Krankenhauspersonal und Familien, sind relativ roh gestaltet, als wären sie hastig entstanden, zufällig zusammengefügt. Für mich trägt das einen philosophischen Ansatz in sich: Ich denke, also bin ich. Die Physiker sehen eine Welt, die sie für selbst erschaffen halten, und deshalb erscheint ihnen vieles eher wie Bastelmaterial und formbare Grundsubstanz statt wie durchdesignte Figuren, die sie in Wahrheit selbst sind. Auffällig ist, dass gerade die Physiker realistische Augen und relativ realistische Kopfformen haben, realistisch jedenfalls für Figuren aus Klebeband und Knöpfen.

 

Ich bin fast schon verzaubert vom vordergründigen Umgang der Stückvorlage mit Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen. Auch wenn viel Ironie und Zynismus dahintersteckt, finde ich es lobenswert, ihnen ein sicheres Zuhause zu geben und ihnen Möglichkeiten zu eröffnen, mit ihren Symptomatiken auf ihre Weise umzugehen, zum Beispiel mit Instrumentalspiel. Gleichzeitig ist mir bewusst, dass dieser Ansatz später gebrochen wird. Psychopharmaka werden überdosiert und es ist auch sehr grenzwertig, Patientinnen und Patienten Alkohol und Zigaretten konsumieren zu lassen.

 

Die Physiker als Stück für eine einzige darstellende Person aufzuführen, ist eine unglaublich mutige Herausforderung, die Jonas Arndt hervorragend meistert. Ich kannte das Stück vorher und war trotzdem immer wieder überrascht von den Wendungen. Es ist ein beeindruckender Zaubertrick, wenn so viele Figuren gleichzeitig auftreten und ein einziger Mensch ihnen allen unterschiedliche Stimmen, Körperlichkeiten und Interaktionen geben kann, wie dem lethargisch-schläfrigen Einstein, dem reptilhaften Newton der auf mich wie eine verräterische Schlange wirkt und dem überlagerten Möbius für den irgendwie seine Realität zu einer Art Museum verkommt. (Regie: Patrik Lumma, Regieassistenz: Emma zum Winkel, Technik: Tabea Baumer)

 

Musikalisch hat mich die Inszenierung weniger mitgenommen. Soweit ich das beurteilen kann, kommen nur Musikstücke vor, die auch im Handlungskontext passieren, also wenn Einstein zusammen mit der Psychiaterin Geige spielt. Dafür wurden offenbar professionelle Aufnahmen verwendet, was ich persönlich nicht schlüssig finde, denn im therapeutischen Kontext hinter verschlossenen Türen würde es selbst bei einigem Talent nicht wie eine Studioaufnahme klingen.

An dieser Stelle meine allgemeine Ermutigung an Regie-Teams. Du hast den Text vorzulegen und du beschäftigst dich mit diesen konkreten Wörtern seit Wochen. Ich im Publikum höre eventuell diesen Text zum allerersten Mal in meinem Leben, der eventuell in einem Deutsch formuliert ist, das ich so aus dem Alltag nicht kenne, und der eventuell Begriffe enthält, wie in diesem Stück zum Beispiel viele Eigennamen, die ich nicht kenne. Dann brauche ich bitte genug akustischen Raum, um mich auf die Sprache zu konzentrieren. Die Wirkung der Musik wäre auch da gewesen, meiner Meinung nach, wenn sie deutlich leiser und deutlich dumpfer gewesen wäre.

 

Ist das überhaupt vegan?

In dieser Kategorie schaue ich, ob im Stück klimapolitische Fragen thematisiert werden.

Soweit ich das nachvollziehen kann, geschieht das nicht. Im zweiten Teil werden feierlich zubereitete Tierleichen konsumiert, wie das in unserer Kultur leider üblich ist.

 

Wie queer ist das denn?

In dieser Kategorie prüfe ich, ob queere Perspektiven oder queere Anbindungen im Stück vorkommen.

Soweit ich gesehen habe, passiert das nicht. Die zwischenmenschlichen Beziehungen sind durchgehend heteronormativ.

 

Hast du die Kids gesehen?

In dieser Kategorie untersuche ich, ob Kinderrechte, die Darstellung von Kindern oder der Umgang mit Kindern thematisiert werden.

Kinder kommen nur an einer Stelle vor, nämlich wenn die drei Kinder der Familie von Möbius zu Besuch kommen. Ich finde es lobenswert, dass sie Zeit mit ihrem biologischen Vater verbringen sollen und dass Eltern ihren Kindern eine sichere und lebenswerte Zukunft ermöglichen wollen. Soweit ich das nachvollziehen kann, hat Frau Rose einen zumindest interessierten Partner für die Kinder gefunden. Also die gute Nachricht ist: Es kommen Kinder vor und die werden gut behandelt. Von einer Thematisierung kann aber keine Rede sein.

 

Meine Haltung zum Bühnenwerk

Ich gehe wenn möglich ohne Vorbereitung ins Theater, ohne Programmheft und ohne Vorgespräche, weil ich erleben möchte, wie ein Stück für sich wirkt. Gleichzeitig informiere ich mich über die Welt, in der diese Arbeiten entstehen. Ich mache mir meine eigenen Gedanken, lasse das Gesehene wirken und versuche herauszufinden, was es in mir auslöst, ohne zu behaupten, dass es eine einzige richtige Lesart gibt. In diesem Fall habe ich, wie schon oben erwähnt, das Stück schon einmal als Theaterstück angeschaut und hatte daher eine grobe Ahnung, was so passiert und worum es geht.

 

Wenn dich mein Text neugierig gemacht hat, dann schau dir das Stück gern selbst an!

Die passende Infoseite findest du auf der Website des Theaters:

Die Physiker beim Theater Salz und Pfeffer (externer Link)



Schön, dass du bis hierhin gelesen hast!

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