EVENT 14. September 2025
ARTIKEL 15. September 2025
Jetzt mit Homepage - mein erster Theater-Blog! WOW!
Vorbemerkung:
Ich versuche, Stücke so anzuschauen, wie sie sind. Also nicht zu trennen, was nun genau im Originaltext steht, was das Regie-Team dazu erfunden hat oder was vielleicht in der Probe improvisiert wurde. Für mich ist das Bühnenwerk kein work in progress, wo ich noch irgendwas Konstruktives beisteuern könnte. Ich will meine Eindrücke teilen – und vielleicht andere ermutigen, sich selbst ein Stück anzuschauen und die eigene Erfahrung zu machen.
Es gibt da draußen mehr als genug Theaterkriter*innen, dazu zähle ich mich nicht. Ich bin überzeugt, dass das hier wahnsinnig unprofessionell wird und ich eventuell ein paar Leuten (aus Versehen! sorry!) auf die Füße treten könnte.
Premiere – und irgendwie auch nicht
„Harold und Maude“ läuft am Theater Altenburg Gera. Die Premiere, die ich gesehen habe, fand im Theaterzelt Altenburg statt. Irgendwie war es gleichzeitig eine Premiere, aber irgendwie auch nicht: In Gera wurde die Inszenierung mit fast identischer Besetzung schon gespielt. Aber in Altenburg war es eben die Zelt-Premiere – und noch dazu die Premiere des neuen Harold-Darstellers.
Passt das zum Blog "premiereverpasst"? Ein klares "Jein!" :D
Erster Eindruck.
Das Ganze war ein ziemlicher Trip.
Schon schräg, aber auch sehr reizvoll.
Mir hat es gefallen.
Harold.
Besonders eindrucksvoll war für mich die schauspielerische Leistung von Leon Rüttinger (Harold). Der Darsteller hatte, wenn ich es richtig nachvollzogen habe, nur vier Tage Zeit, um in die Rolle einzuspringen – und er hat es einfach großartig gemacht: so klar, offen und mit einer kindlichen Naivität, dass ich ehrlich verzaubert war. Die leuchtenden Augen, das authentische (bzw. authentisch wirkende?) Interesse an anderen, und achdumeinegüte der extra vorbereitete Song, bitte Taschentücher mitbringen!
Dr. Mathews.
Daneben mochte ich sehr die Figur des Psychiaters Dr. Mathews. Er war der Einzige, der Harold wirklich zugehört hat – optimistisch und interessiert – und gleichzeitig die psychologischen Prozesse professionell einordnete. Während alle anderen Figuren entweder eher desinteressiert waren oder aber Harolds Probleme verstärkten, wirkte Dr. Mathews wie ein Ruhepol: stabilisierend und empathisch. Er hat aber auch so ein paar Ausflüge (einfach mal Psychopharmaka an random fremde Leute ausgeben z.B.) die nicht in Ordnung sind und nicht zusammenpassen...
Ästhetik & Inszenierung.
Die Ästhetik hatte für mich einen deutlichen 70er-Jahre-Einschlag. Dazu beigetragen haben robuste Kunststoff-Oberflächen, Neon-Beleuchtung und eine Dose Haarspray pro Damenfrisur. Viele Situationen und Designs erinnerten mich an das, was ich mir als Konsumerfahrungen synthetischer Drogen vorstellen würde – bunt, übersteigert, assoziativ, fast halluzinativ. Ich würde sogar sagen: Diese Inszenierung könnte als Substitution dienen, wenn jemand mal eine „Psychedelic Experience“ erleben möchte – aber eben rein im Theater.
Die Aufführung ist zweigeteilt, es gibt eine Pause.
Vor der Pause: völlig abgedrehte Szenen, wild, voller Slapstick und Klamauk. In diesem Chaos wirkten die Szenen zwischen Harold und Maude wie kleine, ehrliche Inseln.
Nach der Pause: das Ganze wurde fokussierter. Die Szenen zwischen Harold und Maude rückten ins Zentrum, wurden rührend und traurig. Da hat sich die emotionale Konzentration verdichtet.
Bühnenbild & Requisiten.
Vor der Pause: eine dreiseitige Kulisse in Originalgrößen – richtig opulent. Danach: Minimalismus bis hin zu „nichts mehr“. Für mich war das nicht nachvollziehbar, ich hätte mir mehr Kontinuität gewünscht. Gerne mehr analoge Sinnlichkeit! Für mich hätte es nach der Pause ruhig so weitergehen können, mit den überbordenden Ideen aus den Gewerken.
Ähnlich war es mit den Requisiten: erst eine wahre Materialschlacht, detailverliebt, für jede Gelegenheit etwas dabei. Dann nach der Pause fast nichts mehr – nicht einmal die Blümchen, die vorher noch gepflückt und dialogisch betrachtet wurden.
Technik & Akustik.
Im Altenburger Theaterzelt scheint es nicht möglich zu sein, unverstärkt zu spielen. Alle hatten ein Mikroport, die Stimmen liefen über die Soundanlage. Ich persönlich mag an analogem Theater gerade, dass man hört, wo eine Stimme herkommt und wie weit sie weg ist. Mit Verstärkung geht dieser Effekt verloren – oder er muss künstlich nachgesteuert werden.
Pass auf, jetzt kommen meine 3 Spezial-Kategorien, an denen hab ich MONATE gefeilt:
1 = Ist das überhaupt vegan?
Ein Blick auf Umwelt und Klima. Maude zeigt sich als Aktivistin – aber ehrlich gesagt als ziemlich verfehlte.
Sie erzählt, Kanarienvögel aus dem Zoo befreit zu haben (die wohl kaum in ihre natürliche Umgebung entkommen konnten).
Sie entwendet eine Zierpflanze vom Rathaus, ohne sie fachgerecht zu transportieren oder einzupflanzen.
Am heftigsten: Sie entführt eine Robbe, transportiert sie im Auto des Pfarrers, setzt sie zuerst im Weihwasserbecken der Kirche aus und lässt sie dann im offenen Ozean frei.
Das alles soll wohl ihre Freiheitsliebe zeigen, wirkt aber wie performativer Aktivismus, der auf Kosten des Tierwohls geht. Klar: Im Theater kam kein echtes Tier oder keine echte Pflanze zu Schaden. Aber die Botschaft bleibt fragwürdig.
2 = Wie queer ist das denn?
Kurz gesagt: gar nicht. Es gibt keine Auseinandersetzung mit queeren Themen. Stattdessen eine sehr heteronormative Geschichte zwischen zwei weißen, heterosexuellen Figuren. Politisch relevant ist die Frage nach Ageism und nach Selbstbestimmung am Lebensende – aber queer ist das Stück nicht.
3 = Participation trophy – muss ich etwa mitmachen?
Ich hasse Publikumsinteraktion, also war ich froh: Hier war es minimal.
In der Pause kann es passieren, dass man von den „ermittelnden Polizisten“ dokumentiert wird – aber man muss nichts tun und ich glaube wenn man ins Foyer geht statt im Theatersaal sitzen zu bleiben, ist man sicher.
Später wird die Robbe (eine riesige weiche Handpuppe) ins Publikum geworfen und wenn die bei dir landet musst du sie nach hinten/oben weiterreichen, wie crowd surfing – als Bild dafür, dass sie frei im Meer davonschwimmt.
Beides fand ich harmlos und erträglich.
Triggerwarnung
Das Stück enthält deutliche Darstellungen von suizidalem Verhalten.
👉 Wenn du selbst betroffen bist oder Unterstützung brauchst, wende dich frühzeitig und vertrauensvoll an die TelefonSeelsorge – Suizidprävention (externer Link).
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