Auschrei (Tennessee Williams)

Kulturquartier Bayreuth (bespielt durch die naturbühne Trebgast)

EVENT: 7. Dezember 2025

ARTIKEL: 8. Dezember 2025


Aufschrei - Projektion im Kulturquartier Bayreuth
Aufschrei - Projektion im Kulturquartier Bayreuth

Ich war am Sonntag 7. Dezember 2025 um 17 Uhr im Kulturquartier in Bayreuth und habe mir »Aufschrei« von Tennessee Williams angesehen. Das Kulturquartier ist in einer ehemaligen Sparkasse, ein sehr offen gestalteter Space, in dem Foyer, Zuschauerraum und Bühnenraum nicht wirklich voneinander getrennt sind. Die Bühne ist deutlich erhöht, was zunächst gut klingt, aber wenn unten auf dem Boden etwas passiert und man nicht in den vorderen Reihen sitzt, hat man bei vollem Haus kaum Chancen, genau zu sehen, was passiert. Ich persönlich finde, sowas muss bei der Inszenierung mitbedacht werden. Dinge, die wichtig sind, sollten dann vielleicht nicht am Boden passieren, sondern auf einem Sofa oder einer anderen erhöhten Oberfläche.

 

Die zwei Figuren im Stück stehen buchstäblich auf den Scherben ihrer Existenz. Das Bühnenbild (Ausstattung: Ruth Pulgram) besteht aus auf dem Boden verteilten Kunstglasscherben, die das Bühnenlicht in verwirrte Lichtspiele auf die umliegenden Wände werfen. Der Bühnenraum ist, neben diesen spiegelnden Glasscherben, ausgestattet mit einigen Möbelstücken aus rohem, unverarbeitetem Holz. Felice trägt die alten Sachen des Vaters, die später als schwitzig beschrieben werden und die für meinen persönlichen Geschmack durchaus etwas labberiger und dreckiger hätten aussehen dürfen. Clare trägt ein Prinzessinnenkleid und zwischendurch eine Tiara. Zentral hängt an einem überdimensionalen Ständer eine einzelne Glühbirne, die irgendwann einfach angeht – sowohl von mir als auch von den Figuren unbemerkt. Dafür, dass behauptet wird, die Figuren würden im Dunkeln leben und sich im Dunkeln zurechtfinden, ist das Stück insgesamt erstaunlich gut ausgeleuchtet (Lichtdesign: Kai Fischer). Immer wenn die Tür aufgeht, gibt es magentafarbene Lichtstimmung (ja, ich lass das hier einfach so stehen). Es steht außerdem ein modernes, funktionierendes Mikrofon auf der Bühne und ein Loop-Board, auf dem Felice passende Geräusche und kleine musikalische Sequenzen aufspielt. Und für das Theaterstück innerhalb des Theaterstücks gibt es ein wunderbares altes Telefon, bei dem man noch so richtig aggressiv den Hörer auf die Gabel knallen kann. Wo ich ganz nebenbei einen gesellschaftlichen Rückschritt sehe, dass das mit heutigem Telefon nicht mehr möglich ist. Man kann nicht halb so aggressiv auf Auflegen drücken auf einem Touchscreen.

 

Was mir auffiel: In der Ausstattung ist immer wieder zu sehen, dass sehr viel mehr passiert, als man vielleicht auf den ersten Blick erfassen kann. Das angebliche Telegramm vom angeblichen Kollegium ist ganz offenbar schon mehrfach versucht worden zu zerfetzen und existiert trotzdem noch. Die Platzpatronen sind längst verschossen. Die Seifenblasenflüssigkeit scheint eine wirklich lieblose Rezeptur zu haben, nur mit Mühe und mit viel Supperei sind ein paar einzelne traurige Bläschen zu produzieren. Und an einigen Stellen nimmt das Standmikrofon wie zufällig die Gespräche der Geschwister mit auf und verfremdet die Stimmen oder produziert ein Echo.

 

Das Stück ist ein Psychothriller, allerdings einer, in dem viele Ebenen ineinander spielen. Ich bin sicher, irgendwo existiert eine Grafik, die darstellt, wie diese Ebenen zusammenhängen, wann welche nach vorne tritt und wie sie wieder verschwinden. Eine Ebene ist die Theatersituation selbst – die Personen spielen ein Stück oder tun so, als würden sie ein Stück spielen. Dann gibt es die Ebene des Stücks, das gespielt wird. Und dann gibt es die Ebene zweier psychisch kranker Geschwister, die im Haus der verstorbenen Eltern leben, ohne Strom, teilweise ohne Telefon, die im Dunkeln sitzen und sich verlieren.

 

Ich glaube, gerade dieses Nichtwissen macht das Erlebnis so besonders. Als Publikum tappe ich mit im Dunkeln. Was ist real, was passiert gerade wirklich, welche Beweggründe verfolgen diese Personen? Es werden ständig Drohkulissen aufgebaut, und nie ist ganz klar, ob sie wirklich ernst zu nehmen sind. Von Anfang an gibt es eine Pistole. Man weiß lange nicht, ob Clare bewusst ist, dass sie da ist. Dann stellt sich heraus, dass sie nur mit Platzpatronen gefüllt ist. Dann wieder mit scharfer Munition. Sobald sie mit scharfer Munition geladen ist, wird das Stück neu begonnen. Felice verlangt dann sogar, erschossen zu werden. Und das ist nur eine von vielen gleichzeitigen Handlungsspiralen.

 

Ich war emotional stark involviert. Das Stück ist hochspannend, ich war sehr dran und am Ende ziemlich mitgenommen. Gleichzeitig erscheint mir vieles davon selbstzweckhaft. Das Stück scheint darauf ausgelegt zu sein, psychologische Räume maximal auszureizen, Schauspiel als psychologisches Forschungslabor zu verwenden. Das ist beeindruckend und absolut sehenswert, weil die Schauspielerinnen – Katja Klemt und Anne Scherliess – das auf höchstem Niveau stemmen. Gleichzeitig habe ich mich gefragt: Wenn ich diese Ressourcen habe – einen Raum, ein Team, Publikum, Energie –, setze ich sie gesellschaftspolitisch wirklich sinnvoll ein? Und in diesem Fall würde ich sagen: eher nein. Es ist ein beeindruckendes Erlebnis, aber eines, das keiner gesellschaftlichen Zielsetzung dient.

 

Während beide Figuren, ich nehme an aufgrund ihrer psychischen Probleme, sehr gehetzt und sehr ausgemergelt wirken, schaffen es die Schauspielerinnen, die Geschwister sehr deutlich voneinander abzugrenzen. Katja Klemt spielt Felice als jemanden, der eigentlich sehr gerne so ein mafiöser Managertyp sein möchte, der im Hintergrund irgendwelche Fäden zieht und immer gern einen Ass im Ärmel hat, was aber Felice nicht gelingt, auch weil Clare Felice sehr gut kennt. Anne Scherliess spielt Clare als ein mit dem imaginären Publikum balzendes Vögelchen, das immer liebreizend und wunderschön sein möchte, aber dann immer wieder in unerwarteten Augenblicken durchscheinen lässt, dass sehr viel mehr von der Situation überblickt wird, als es im ersten Augenblick den Anschein hat. Und Clare weiß auch sehr gut, wie man Salz in die Wunden von Felice streuen kann. Dann färbt sich auf einmal die Stimme dunkel und die Augen werden schattig. Und die eben noch turtelnde Clare raunt Felice zu, was alles entweder auf der Bühne oder im Leben schiefgelaufen ist.

 

Es ist natürlich vollkommen selbstverständlich, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen Persönlichkeiten sind. Vielschichtig und Vieldimensional. Aber ich halte es nicht für selbstverständlich, das so auch explizit ausgestaltet auf der Bühne zu sehen. Die Gefahr, wenn Menschen mit psychischen Erkrankungen dargestellt werden, ist meiner Meinung nach immer da, dass die Figur aufgrund der Erkrankung wenige Dimensionen bekommt und Ausmaß und Art der Erkrankung und inwieweit das Auswirkungen auf andere Lebensbereiche hat, nicht genug Berücksichtigung findet. Das ist hier nicht geschehen. Für mich ist deutlich sichtbar, dass sehr reflektiert und sehr intensiv an den Figuren gearbeitet wurde. Und viele Details, viele Anschlüsse, viele Stimmungswechsel, viele, wenn auch verschrobene und vielleicht nicht ganz logische Konsequenzen, aber doch innerhalb der Gedankenwelt der Figuren und der Realität des Stücks schlüssige Situationen und Dimensionen geschaffen werden – Regie: Anja Dechant-Sundby.

 

Ist das überhaupt vegan?

Klimaaktivismus oder klimapolitische Perspektiven sind nicht vorhanden. Keine ökologischen Zusammenhänge, keine gesellschaftlichen Diskursbezüge.

 

Wie queer ist das denn?

Das Stück hat keine queere Perspektive. Die Figuren sind zwar weiblich umgesetzt, aber nicht queer erzählt, nicht queer verortet.

 

Hast du die Kids gesehen?

Kinderrechte oder Kinderhandlung sind nicht Teil des Stücks. Kinder tauchen nur indirekt auf, wenn die Figuren über ihre eigene Kindheit sprechen. Und selbst da nur am Rande.

 

Sinnlichkeit

Diese Inszenierung arbeitet stark sinnlich. Licht auf Glasscherben, Dunkelheit, psychische Grenzzustände, brüchige Realitäten, die in unmittelbarer Präsenz erfahrbar werden. Gleichzeitig aber nicht über Multimedia, sondern eher über Konzentration und Zustände. Keine endlosen Gespräche, sondern Handlung, Verwirrung, Wiederholung und Wiederaufnahme.

 

Trigger

Unvermeidbar sind psychische Erkrankungen, suizidale Andeutungen, Todeswünsche, Bedrohungssituationen und Schusswaffeneinsatz. Ich möchte an dieser Stelle ergänzen, dass es vollkommen unnötig ist, eine Pistole auf das Publikum zu richten. Es mag sein, dass Menschen, die im Theater arbeiten, schon unglaublich oft irgendwelche Waffen in der Hand haben und das für sie eine berufliche Normalität darstellt, aber für die meisten Menschen ist das keine selbstverständliche, neutrale Situation, sondern potenziell gefährlich. Und niemand kann mir garantieren, dass dieses Objekt nicht geladen ist.

 

Meine Haltung zum Bühnenwerk

Ich gehe meistens ohne Vorbereitung, ohne Programmheft und ohne Vorgespräche in Vorstellungen. Ich will erleben, wie ein Stück für sich wirkt. Gleichzeitig bin ich nicht in einem luftleeren Raum unterwegs. Ich informiere mich im Leben, ich beobachte gesellschaftliche Entwicklungen, und das spielt natürlich in meine Wahrnehmung hinein. Dieses Stück löst bei mich viel aus, aber nicht politisch. Es lässt mich mit Gefühlen zurück, mit der Frage nach psychischer Verletzlichkeit, mit der Frage, wie Menschen in Ausnahmesituationen existieren. Und das ist legitim. Nicht alles muss gesellschaftspolitisch verwertbar sein.

 

Wenn dich dieser Text neugierig gemacht hat, dann kann ich dir leider nicht konkret empfehlen, »Aufschrei« anzuschauen, weil das Stück – soweit ich das überblicken kann – aktuell nicht mehr aufgeführt wird. Was ich dir aber sehr ans Herz legen möchte: Folge dem Kulturquartier Bayreuth und der Naturbühne Trebgast für weitere Produktionen, neue interessante Inszenierungen und vielleicht auch für den Fall, dass dieses Stück irgendwann erneut aufgenommen wird.

 

Kulturquartier Bayreuth (externer Link)

Naturbühne Trebgast (externer Link)

Bühnenraum und Bühnenbild von Ruth Pulgram
Bühnenraum und Bühnenbild von Ruth Pulgram

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