Cirque du Soleil Theater am Potsdamer Platz, Berlin
Event: 1. November 2025
Artikel: 13. November 2025
Ich war in Alizé, der neuen Cirque-du-Soleil-Show in Berlin, der ersten Show in Europa mit einem festen Haus. Ich habe eine Preview geschaut, die Premiere ist erst Ende November, aber ich wollte trotzdem schon etwas darüber erzählen, weil mich das Erlebnis berührt und überwältigt hat – positiv wie negativ.
Es war ein multimediales und multidisziplinäres Erlebnis, und ich kann es nicht anders beschreiben als surreal. Da waren unglaublich talentierte Künstlerinnen und Artistinnen, und gleichzeitig erschufen dreidimensionale Projektionen, Licht und andere Effekte eine übersinnliche Traumwelt. Aber genau an dem Punkt fing mein Problem an: Ich liebe an Live-Performance das Lebendige, das Reale, dass da echte Menschen unglaubliche Dinge tun. Wenn aber so viel mit Projektionen, großflächigem Licht und digitalen Illusionen gearbeitet wird, dann verschiebt sich die Wahrnehmung. Irgendwann wusste ich nicht mehr, ob ich tatsächlich Körper sehe oder Animationspartikel. Und wenn ich das nicht mehr klar unterscheiden kann, wird das Live-Erlebnis für mich dünner. Ich will spüren, dass da jemand wirklich fliegt, dass da physisches Risiko im Raum steht, dass das, was ich sehe, tatsächlich passiert. Wenn die Ästhetik aber zu sehr Richtung Film kippt, geht genau das verloren.
Musikalisch begleitet wurde das Stück von einer hauptsächlich singenden Person und einer Harfe spielenden Person. Beide waren präsent, beide live, aber der Rest der Musik kam, soweit ich das nachvollziehen konnte, vom Band. Das hat mich irritiert. Ich war bisher überzeugt, dass Live-Musik ein unverzichtbarer Bestandteil von Cirque-du-Soleil-Performances ist. Gerade deshalb hat mich die Entscheidung für ein Mischformat aus Live-Stimme, Live-Harfe und dann doch wieder Backing-Track überrascht und auch enttäuscht. Zumal im Band weitere Zupfinstrumente zu hören waren, die klanglich so nah an der live gespielten Harfe lagen, dass irgendwann nicht mehr klar war, was eigentlich echt ist und was nicht. Und das, das kann ich gar nicht oft genug betonen, finde ich nicht ok bei einer Live-Performance. Wenn ich das Gefühl verliere, die Quelle des Klangs zu erkennen, verliert die Szene für mich ein Stück ihrer Ehrlichkeit.
Ich versuche mal zu sortieren, was ich alles gesehen habe. Es gab Jonglage, klassischen Seiltanz und Trapezartistik. Leiterakrobatik war auch dabei, eine freistehende Balance-Leiter, auf der ein Artist sich selbst und die Leiter gleichzeitig im Gleichgewicht hält. Dazu mehrere Kontorsionsacts: Eine der Hauptfiguren arbeitete viel mit Contortion, später gab es eine größere Nummer, die Tanz, Kontorsion und Menschenpyramiden verband. Mehrere Tanzeinlagen tauchten auf, eine davon besonders poetisch: Eine Tänzerin, unsichtbar an einem Seilzug gesichert, schwebte durch den Raum und zeigte schwerelose Figuren. Ein Artist fuhr Kunstrad, eine riesige Trampolin-Nummer nutzte einen dreiwandigen, vollverspiegelten Aufbau mit Türen, es gab Akrobatik mit einer Wippe und erneut Menschenpyramiden. Manche davon waren wunderbar in die Handlung eingewoben, andere fühlten sich eher wie austauschbare Katalognummern an.
Zwei Luftnummern sind mir besonders aufgefallen. Die eine war an Aerial Straps, zwei Artist*innen, die jeweils mit einer Schlaufe an den Händen in die Luft gingen und über dem Publikum hinwegschwangen. Die andere war ein Vertikaltuch-Act mit einem mobilen Rigging, ein fliegendes Vertikaltuch, das sich nicht nur vertikal öffnet, sondern den gesamten Körper seitlich durch den Raum trägt. Beide Acts wurden allerdings ziemlich ruppig ausgeführt. Vielleicht ist das Absicht, vielleicht eine stilistische Entscheidung, aber ich persönlich mag solche Luftartistik lieber, wenn sie leicht und harmonisch wirkt und nicht so kämpferisch.
Dramaturgisch war das Stück für mich unscharf. Wir lernen eine Hauptfigur in ihrer Wohnung kennen, und sie wird hinausgezogen in eine immer verrückter werdende Welt. Danach passiert viel, sehr viel, aber am Ende landet alles in einer Art Straßenparty, und ich saß im Saal und wusste eigentlich nichts über diese Figur, der ich zwei Stunden lang gefolgt war. Es gab erzählerische Grundabsichten, das war deutlich spürbar, aber daraus entstand kein konkludentes und befriedigendes Storytelling, das mich hätte mitnehmen oder mir das Gefühl geben können, wirklich etwas über diese Person erfahren zu haben.
Eine organisatorische Sache war wirklich untragbar. Ohne Signal, ohne Vorwarnung, ohne Countdown ging nach der Pause das Saallicht aus, und die Show lief sofort weiter. Es war stockdunkel, viele Menschen suchten tastend ihre Plätze, während auf der Bühne ausgerechnet eine Seiltanznummer lief, etwas, das absolute Konzentration verdient und mit dem Chaos im Zuschauerraum völlig kollidierte.
Was mich im besten Sinne überrascht hat, waren die Bühnenbilder. Jedes Mal, als sich der Vorhang öffnete, stand da eine völlig neue Welt, die sich dann auch noch immer wieder verwandelte. Ein lebensgroßer Herbstbaum und ein Marktplatz drumherum. Danach wieder etwas ganz anderes. Reale Elemente, Projektionen, bewegliche Teile, alles ineinander verschränkt, alles in Veränderung begriffen. Und mitten in diesen Transformationen tauchte plötzlich ein Tornado auf, ein luftströmendes, wirbelndes Gebilde aus Wind und Rauch, das sich formte, auflöste, wieder zusammenfand. Ein Effekt, der so körperlich wirkte, dass man fast vergaß, dass man in einem Theater sitzt. Man hat in jeder Sekunde gesehen, dass weder Kosten noch Aufwand gescheut wurden, um diese Bilderfluten zu realisieren. Das war überwältigend im positiven Sinne und künstlerisch schlicht surreal.
Ist das überhaupt vegan? Thema Klima oder Umwelt tauchte in dieser Inszenierung überhaupt nicht auf. Es gab keinen Hinweis auf ökologische Zusammenhänge, keine Reflexion über Natur, Ressourcennutzung oder Verantwortung. Das ist natürlich eine Entscheidung, aber eben keine neutrale. Auch nicht über Klima zu sprechen, ist eine politische Aussage. In einer Zeit, in der Bühnenkunst immer stärker über Nachhaltigkeit und ökologische Verantwortung nachdenkt, wirkt diese völlige Abwesenheit von klimapolitischen Perspektiven wie ein bewusstes Weglassen.
Wie queer ist das denn? Queere Themen kamen nicht vor. Keine queeren Figuren, keine queeren Perspektiven, kein queeres Denken. Auch hier gilt: Das Nichtthematisieren ist nicht neutral. Eine Show, die rein heteronormativ wirkt, trifft damit eine politische Setzung, auch wenn sie sie nicht ausspricht. Es ist die Entscheidung, queere Sichtbarkeit nicht einzubauen, und das fällt auf, gerade weil die Ästhetik ansonsten so zeitgenössisch auftritt.
Hast du die Kids gesehen? Kinder oder kindliche Figuren gibt es in diesem Stück überhaupt nicht, weder als Symbol noch als Thema. Auch das ist nicht unpolitisch. Kinder sind in vielen gesellschaftlichen Fragen präsent, und ihre Abwesenheit ist ebenfalls eine erzählerische und politische Entscheidung. Die Show bleibt eine erwachsene Fantasie, ohne Perspektiven, die sich mit den Lebensrealitäten von Kindern oder Jugendlichen beschäftigen.
Sinnlichkeit: Hier ist definitiv Wert darauf gelegt worden, Prozesse multimedial und über viele Ebenen gleichzeitig erfahrbar zu machen. Reale Körper, physische Bühnenarchitektur, Projektionen, Nebel, Licht, Sound, alles in Kombination und mit Liebe zum Detail. Das erzeugt eine starke atmosphärische Präsenz und macht klar, dass diese Show sinnlich gedacht ist, nicht textlastig.
Trigger: Es gab keine inhaltlichen Trigger wie Suizidalität, Gewalt oder Missbrauch. Was allerdings unnötig war und für manche stressig sein könnte, war das abrupt dunkle Theater nach der Pause und das Tastchaos im Zuschauerraum, während die Bühne schon wieder lief.
Meine Haltung zu Bühnenwerken ist grundsätzlich, dass ich möglichst ohne großes Vorwissen hineingehe. Ich lese keine Programmhefte, ich vermeide Interviews oder Regiekommentare, und ich versuche, mich nicht vorher in Interpretationen zu verlieren. Natürlich schaue ich mir in der Regel trotzdem die Website an oder stolpere über ein paar Informationen, das lässt sich gar nicht vermeiden. Aber mein Ausgangspunkt bleibt: Ein Stück sollte mir in den zwei oder drei Stunden seiner Dauer selbst mitteilen, was es erzählen will. Dass ich dabei auf bestimmte ästhetische und dramaturgische Entscheidungen reagiere, gehört für mich einfach dazu. Alizé hat mich in seinen stärksten Momenten staunen lassen und in seinen schwächeren Momenten ratlos. Wenn dich meine Beschreibung neugierig macht, dann schau es dir an. Informationen findest du auf der Seite des Cirque du Soleil.
Cirque de Soleil Alizé (externer Link, die Website allein ist schon ein Erlebnis!):
https://alize.show/de
Schön, dass du bis hierhin gelesen hast!
Du kannst, wenn du möchtest, meine Arbeit auf zwei Arten ganz konkret unterstützen:
... mir einen Kaffee spendieren:
(PayPal) martiny@premiereverpasst.de
... mich einladen:
Ich freue mich immer über Einladungen von Theatern und Veranstalter*innen – schreibt mir einfach über das Formular!
Und natürlich: Folge mir gern auf instagram, damit wir in Kontakt bleiben!
@premiereverpasst
